Während ich diese Zeilen tippe, weiß ich bereits, dass dies der persönlichste und emotionalste Post werden wird, den ich je geschrieben habe. Ich bin mir darüber bewusst, dass ich mit diesem Beitrag ein großes Stück meiner Privatsphäre aufgebe, aber ich möchte mir diese in meinem Kopf wütenden Gedanken endlich mal von der Seele schreiben und hoffe, dass ich auch andere dazu bewegen kann, sich aktiv mit ihrer Trauer zu beschäftigen. Anlässlich des bevorstehenden elften Todestages meines Vater habe ich einen Brief an ihn geschrieben, den ich Euch gerne zeigen möchte.

Mein geliebter Papa,
bald jährt sich dein Todestag zum elften Mal. Ich kann es mittlerweile in irgendeiner Art und Weise akzeptieren, dass ich Dich nie wieder sehen werde, aber verstehen werde ich es nie. Wie gerne würde ich Dir von meinem Leben, von meinen Träumen und Plänen erzählen. Du bist gegangen als ich noch halb in den Kinderschuhen stand. Es sollte ein Wochenende wie jedes andere werden. Doch freitags bist du zusammengebrochen und hast das Weltbild von Mama und mir erschüttert. Samstags ging es Dir wieder besser und Du konntest sogar die Intensivstation verlassen und ein normales Zimmer im Krankenhaus beziehen. Sonntags waren wir dann alle bei Dir und haben in der Krankenhaus-Caféteria gemeinsam Kaffee getrunken. 1 Stunde später warst du tot. Eineinhalb Stunden Reanimation konnten Dich nicht zurückholen. Ich habe an diesem Tag nicht realisieren können, was passiert ist. Ich war noch zu jung, um zu verstehen, dass Du aufgehört hast zu atmen, zu sprechen, zu lachen, zu fluchen, zu existieren. Manchmal sehe ich das Gesicht von Mama vor mir, wie sie mich in den Arm nimmt, voller Verzweiflung blickt sie mir in die Augen und ich merke, dass auch sie nicht weiß, wie es weitergehen soll. Noch einmal dürfen wir dich sehen und uns kurz von Dir verabschieden. Dann müssen wir nach Hause fahren und uns damit abfinden, dass du weg bist. Ein Schrank voll mit deiner Kleidung, deine Hausschuhe im Schlafzimmer, dein Aschenbecher auf dem Balkon, dein Auto in der Garage. Ehrlich gesagt kann ich mich nichtmehr daran erinnern, was ich an diesem Nachmittag getan habe. Weinen konnte ich nicht, denn ich stand unter Schock. Auch in den darauffolgenden Tagen konnte ich keine einzige Träne vergießen, nichtmal an deiner Beerdigung. Die Trauer hatte mich so fest im Griff, dass ich in eine Starre verfallen bin, die mir jegliche Emotion raubte. Ich begriff nicht, was vor sich ging. Irgendwie schaffte ich es nach zwei Wochen wieder in die Schule zu gehen, meine Klausuren abzuliefern, vor Freundinnen eine starke Person zu spielen. Wenige Tage nach deinem Tod findet meine Konfirmation statt. Ich hätte diesen Tag gerne aus meinem Kalender gestrichen. Alles glich eher einer Trauerveranstaltung und ich konnte doch sowieso an nichts anderes denken, als an deinen Verlust. Meine Familie voller Trauer zu sehen und doch so viel Fassung wahrend, dass sie mir diese Feierlichkeit nicht „ruinieren“ wollen, verletzte mich tief. Ich wollte doch selbst schreien, weinen, weglaufen.

 

 

Ich erlebe den Trauerweg seit elf Jahren als einen sehr harten Prozess mit vielen Höhen und Tiefen. Mal denke ich, dass ich über deinen Tod hinweg bin, aber ich täusche mich jedes Mal. Du fehlst an jeder Ecke und Kante und ich würde Dir so gerne alles von mir erzählen, deine Meinung hören, auf deine Unterstützung zählen können. Du hast weder mitbekommen, dass ich Abitur gemacht habe, noch konnte ich Dir meinen ersten Freund vorstellen, Dir zeigen, wie ich Auto fahre, dich aus meinem ersten Urlaub ohne Eltern anrufen, Dir mein Ausbildungszeugnis präsentieren, dich fragen, ob Du mich zum Altar führst, wenn ich heirate oder Dir in ein paar Jahren sagen, dass Du Opa wirst. Ich bin mir sicher, dass Du mich beobachtest, deine schützende Hand über mich hälst und verfolgst, was ich tue. Aber nur zu gerne würde ich noch einmal mit Dir sprechen können und dich bitten wenigstens noch ein paar Jahre länger zu bleiben. Dass Eltern irgendwann sterben, ist mir bewusst und damit kommt man bestimmt irgendwie klar, aber nicht, dass jemand so früh von dieser Welt gehen muss. Ich möchte Dir so gerne Witze erzählen, Urlaubsfotos zeigen, ein Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk überreichen, dich in meine eigenen vier Wände einladen, mit Dir im Sommer auf dem Balkon grillen, Dir beweisen, dass ich eine starke, junge Frau geworden bin, die für ihre Träume kämpft und niemals aufgibt daran zu glauben.

 

 

Es ist doch immer so, dass man denkt, dass es einen selbst nicht treffen kann und all die schlimmen Geschichten in den Nachrichten immer nur andere Leute betreffen. Aber wenn das Schicksal in den eigenen Reihen zuschlägt, wird einem schmerzlich bewusst, wie wichtig es ist, seine Liebsten ganz festzuhalten und ihnen lieber einmal mehr zu sagen, was sie einem bedeuten. Ich bin dankbar, dass wir nicht im Streit auseinander gegangen sind und dass ich dich kurz vorher nochmal in den Arm genommen habe und Dir sagen konnte, dass ich dich lieb habe. Sei gewiss, dass Mama alles getan hat, um Deine Lücke zu füllen und das hat sie verdammt gut gemacht. Ich danke ihr für alles und bewundere sie dafür, was für eine starke Frau sie ist. Ich möchte  mir niemals vorstellen müssen, dass ich meinen Partner in so einem jungen Alter verliere und schauen muss, dass ich mein Leben völlig neu ausrichte und irgendwie klarkomme.
Jeder verarbeitet seine Trauer anders. Die einen fallen in eine wochen-, monate- oder jahrelange Schockstarre und leben in den Tag hinein. Andere versuchen ihren Schmerz mit Rebellion zu kompensieren und wieder andere suchen den Weg der Ignoranz, um alles verarbeiten zu können. Dazwischen gibt es sicherlich noch zahlreiche Facetten, wie Leute mit Trauer umgehen. Ich habe mich für den Weg der Rebellion entschieden. Schwarze Haare, Piercings, Frustfressen. Ach Papa, wenn Du doch nur sehen könntest, wie ich mich entwickelt habe, dass ich es geschafft habe aus meinem Schneckenhaus rauszukommen, dass ich mich sowohl äußerlich als auch innerlich um 180 Grad gedreht habe. Ich bin gewiss, dass Du stolz auf mich wärst.
Ich habe mein Lachen und meine Emotionen zurückgefunden, kann bedingungslos lieben, glücklich sein. Und ich weiß, dass Du das gut findest. Du hast nicht gewollt, dass ich traurig bin. Heute kann ich behaupten, dass ich zwar sehr sensibel und zerbrechlich bin, aber ich bin auch sehr ehrgeizig, eine Kämpfernatur, gebe niemals auf, stehe für meine Entscheidungen ein und verfolge meine Träume mit vollem Elan. Die Menschen, die ich um mich habe, geben mir Kraft, unterstützen mich, sind für mich da. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft mich zu der Persönlichkeit zu entwickeln, die ich heute bin und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Und Dir bin ich auch dankbar. Dafür, dass Du wenigstens die ersten 14 Jahre meines Lebens für mich dagewesen bist. Ohne Dich gäbe es mich nicht. Ich werde immer deine kleine Prinzessin bleiben und Du mein Papa, mein Held.
In Liebe,
deine Tochter Ivonne

 

Habt ihr auch mit dem Verlust eines geliebten Menschen klarzukommen?

 

7 Comments

  1. Hey,

    ich habe mich in deinem Artikel so wieder gefunden. Ich bin 27 Jahre alt und mein Papa ist vor 2 Jahren von mir gegangen. Ich habe die Energie – oder die Emotionen – in dieser Zeit voll und ganz in die Arbeit gesteckt. Ich wollte alle bereiche so gut ausbauen, sogut dass dieser eine fehlende Teil nicht mehr fehlen würde. Es ging sehr lange sehr gut, aber er wird immer fehlen. Ich möchte mich jetzt wieder mehr damit auseinander setzen und lernen zu akzeptieren, was mein Schicksal ist. Danke für deinen Mut! Danke für den Artikel. Liebe Grüße von Jacky ( fitreadandmore.com)

    • Das tut mir sehr leid, liebe Jacky. Der Verlust eines geliebten Menschen ist wirklich ein hartes Schicksal. Für mich ist damals auch irgendwie ein Teil in mir "gestorben". Liebe Grüße

  2. stylepeacock CHRIS' WORLD OF STYLE Reply

    Ein sehr berührender Post, dein Papa wäre sicher sehr stolz auf dich. Und alles, was er sich sicher für dich gewünscht hätte, ist, dass du wieder lachen kannst und ein glückliches Leben führt. Aber ich verstehe, wie sehr er dir fehlt und das so oft und in vielen Situationen. Was uns in solchen Momenten bleibt, ist nur die Dankbarkeit für die Zeit, die wir mit einem so tollen Menschen hatten. Du hast es trotz des schlimmen Verlusts geschafft, dich toll zu entwickeln, wie gesagt, dein Papa wäre sicher unendlich stolz!

    LG
    Chris

    • Hallo Chris,
      danke für Deine netten Worte. Ich musste mir einfach meine ganzen Gedanken von der Seele schreiben. 🙂

      Liebe Grüße

  3. Mein Beileid. 🙁 Meine Mama ist jetzt schon seit 7 Jahren nicht mehr bei uns und ich kann deine Gedanken gut nachvollziehen.

    • Liebe Isabell,
      danke für Deinen Kommentar. Es ist irgendwie schön, dass man weiß, dass man nicht alleine ist, aber natürlich tut es mir trotzdem sehr leid für dich, dass Du deine Mama verloren hast 🙁

  4. Deine Zeilen haben mich sehr gerührt. Ich kenne das Gefühl der Angst, die einen plötzlich überrollt und dann die Hoffnung, dass doch alles gut geht und plötzlich schlägt das Schicksal doch viel zu früh grausam zu. Meine Mutti ist kurz nach meinem 18ten Geburtstag gestorben und dieses Jahr jährt sich der 10. Todestag und selbst jetzt habe ich immer noch Chen und Tiefen damit umzugehen…

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